
„Aber dann bekommen ja alle ihren Abschluss!“
„Bei einer 5 kann ich wirklich nichts Gutes finden.“
„In meinen Fächern sehe ich da keine Notwendigkeit.“
Drei typische Reaktionen, die mir kürzlich in einer Fortbildung in Berlin zum lösungsorientierten Schüler*innen-Coaching begegnet sind. Und drei gute Gründe, dazu einen Blogartikel zu schreiben.
Was ist lösungsorientiertes Schüler*innen-Coaching überhaupt?
Lösungsorientiertes Coaching basiert auf einer Grundannahme, die im Schulalltag nach wie vor wenig Raum hat:
Alle Menschen haben Ressourcen. Alle Menschen haben Ausnahmen vom Problem.
Das gilt auch für Schüler*innen, die eine 5 geschrieben haben, keine Hausaufgaben machen oder „immer stören“.
Ziel des Coachings ist es nicht, Probleme zu analysieren oder Ursachen zu suchen, sondern gemeinsam mit den Schüler*innen an kleinen, konkreten Fortschritten zu arbeiten – Schritt für Schritt und wertschätzend. Aber Achtung! Probleme nicht in den Fokus zu rücken, heißt nicht, sie zu bagatellisieren! Es ist sogar die wichtigste Grundlage, die Schüler*innen mit allem, mit dem sie da sind zu sehen.
In der Fortbildung mit Lehrer*innen einer Berliner Schule haben wir genau das geübt:
- die eigene Haltung reflektiert („Wer sitzt mir da gerade mit welcher Biografie gegenüber?“),
- Coachingprozesse strukturiert (mit lösungsorientierten Fragen statt Tipps),
- und Anwendungsfelder im Schulalltag ausgelotet.
Dabei tauchten wiederkehrende Einwände auf – die ich hier genauer beleuchten möchte.
Inhaltsverzeichnis
1. „Aber dann bekommen ja alle ihren Abschluss!“ – Was sagt diese Sorge über uns?
Welche Sorge könnte dahinter stecken? Wenn wir alle Schüler*innen wertschätzend und ressourcenorientiert begleiten – geben wir dann nicht alles aus der Hand? Wird der Abschluss entwertet?
Meine Antwort: Wie schön wäre das denn?
Imagine: Kein junger Mensch mehr ohne Schulabschluss. Kein Jugendlicher, der mit dem Gefühl rausgeht, nicht gebraucht zu werden. Das wäre gesellschaftlich ein riesen Erfolg. Das ist ja genau das, wo wir hinwollen.
Aber natürlich: So einfach ist es nicht. Die Haltung einer lösungsorientierten Begleitung ersetzt keine Leistungsnachweise. Es hebt keine Prüfungsordnungen auf.
Es verändert nicht die Rahmenbedingungen – sondern die Art, wie du als Lehrer*in damit umgehst.
Wenn du mit Schüler*innen ein ressourcenorientiertes Gespräch führst, dann hebst du nicht die Maßstäbe auf. Du veränderst die Qualität deiner Unterstützung:
- Du fragst nach Ausnahmen, statt nur nach Fehlern.
- Du förderst Eigenverantwortung, statt Kontrolle.
- Du baust Beziehung auf, statt Widerstand zu verstärken.
Wenn dich diese Vorstellung beunruhigt – dann lohnt es sich vielleicht auch mal in dich selbst zu horchen:
Was bedeutet es für dich, wenn „alle durchkommen“?
Was macht das mit deinem Selbstbild als Lehrer*in?
Vielleicht ist da auch ein Anteil in dir, der immer alles allein leisten musste. Der hart für den eigenen Abschluss gekämpft hat – und jetzt irritiert ist, wenn andere es „leichter“ zu haben scheinen.
Diese Irritation verdient Raum. Aber sie darf kein Argument gegen eine unterstützende Haltung sein.
2. „Bei einer 5 kann ich wirklich nichts Gutes finden!“ – Warum wir unseren Blick schulen müssen
Dieser Satz fiel in der Fortbildung – es platzte regelrecht aus der Lehrerin neben mir heraus. Verständlich! Denn wir alle haben ein Bildungssystem durchlaufen, das stark defizitorientiert war.
Der Fehler war der Fokus. Und ich werde niemandem Wörter in den Mund legen, die sich für die Person nicht stimmig anfühlen. Darum geht es wirklich nicht.
Aber es geht eigentlich genau darum, auch bei einer 5 den Blick auf die Ressourcen zu lenken:
Lösungsorientiertes Coaching dreht diesen Blick um.
Es fragt:
- Was (hat schon) funktioniert?
- Was war anders, als es besser lief?
- Was ist trotz allem gelungen?
Beispiel:
Eine 5 in der Klassenarbeit.
Statt: „Der*die Schüler*in kann es nicht.“*
könntest du fragen:
„Wie hast du es geschafft, dass es keine 6 geworden ist?“
„Welche Aufgabe lief am besten – und warum?“
„Gab es eine Klassenarbeit, die besser lief? Was war da anders?“
„Was war deine Strategie beim Lernen – und was hat vielleicht schon ein bisschen funktioniert?“
Selbst bei einem Totalausfall:
„Was hast du in der Zeit gemacht, als du nicht gelernt hast? Wofür war das wichtig?“
„Wovor hast du dich vielleicht geschützt?“
So entstehen Gespräche, die tiefer führen als Noten.
Und du kommst an Themen wie:
- Prüfungsangst
- Leistungsdruck
- Familiäre Überforderung
- oder auch Schutzmechanismen wie Rückzug, Trotz, Widerstand
Darin liegt ein unglaubliches Potenzial – für Beziehung, Entwicklung und echte Unterstützung.
3. „In meinen Fächern sehe ich da keine Notwendigkeit“ – Warum Coaching keine Fächer kennt
Dazu kann ich sagen: Es geht nicht ums Fach. Es geht um Haltung.
Egal ob Deutsch, Sport, Kunst oder Mathe – du begegnest in jedem Fach Schüler*innen mit Unsicherheiten, Blockaden, Stress, Motivationsproblemen.
Und genau da setzt Coaching an.
Es geht nicht darum, im Unterricht 45 Minuten Coaching zu machen.
Sondern:
- mal eine lösungsorientierte Frage einzustreuen,
- nach Ressourcen zu suchen statt nur nach Fehlern,
- mit einer Schüler*in ein kurzes Gespräch in der Pause zu führen,
- oder im Feedbackprozess stärkende Fragen zu stellen:
„Worauf bist du selbst stolz?“
„Was lief besser als beim letzten Mal?“
„Worauf kannst du beim nächsten Mal aufbauen?“
Coaching ist eine Art zu denken, zu sehen, zu fragen.
Und die passt in jedes Fach.
4. Deine eigene Entwicklung – die Basis für wirksames Coaching
„Wie fühlt es sich an, wenn jemand deine Ressourcen sieht – und du sie selbst entdeckst?“
Warum das so wichtig ist:
- Eigene Erfahrung schafft Empathie
Nur wer selbst erlebt hat, wie stärkend es ist, wenn jemand nach deinen Fähigkeiten und Ausnahmen fragt, kann authentisch in diese Haltung gehen. Du merkst: Es tut gut, gesehen zu werden – und genau dieses Gefühl gibst du in deiner Arbeit weiter. - Trigger erkennen und entschärfen
Jede*r von uns hat blinde Flecken und Trigger, die uns automatisch in alte Muster ziehen: der innere Kritiker, die Angst vor Kontrollverlust oder das Bedürfnis, alles richtig zu machen. Wenn du an dir selbst arbeitest, entdeckst du genau die Momente, in denen deine eigene Stimme laut wird („Das hat schon mal nicht geklappt“). Und erst dann kannst du bewusst entscheiden, ob du in solchen Situationen weiterführend fragst oder dich selbst zurücknimmst. - Ressourcenorientierung wird zur Haltung
Persönliche Entwicklung ist kein Projekt mit klaren Deadlines, sondern eine Haltung, die wächst und reift. Wenn du regelmäßig reflektierst („Wann habe ich zuletzt meine Ressourcen gespürt?“), schärfst du dein Bewusstsein dafür, wo und wie du Schüler*innen wirksam unterstützt – ohne in alte Bewertungs- oder Kontrollmuster zurückzufallen.
Dein nächster Schritt für deine Entwicklung:
- Selbstcoaching ausprobieren: Setze dir selbst lösungsorientierte Fragen, z. B. „Wann habe ich letzte Woche richtig aufblühen dürfen?“
- Peer-Coaching: Tausche dich mit Kolleg*innen aus, probiert euch gegenseitig als Coach und Coachee.
- Professionelle Unterstützung: Melde dich bei mir oder einer anderen Person, mit der du gerne arbeiten möchtest.
Wenn du dich selbst als Lernende*r und Forschende*r siehst, erweiterst du nicht nur dein professionelles Repertoire – du schaffst auch den Raum, in dem deine Schüler*innen wachsen können.
Fazit: Schüler*innen-Coaching verändert – auch dich
Wenn du beginnst, lösungsorientiert zu arbeiten, verändert sich nicht nur dein Umgang mit Schüler*innen – sondern auch deine innere Haltung.
Du wirst zu einer Person, die nach Möglichkeiten fragt statt nach Mängeln.
Die sich traut, hinzusehen – und nicht aufzugeben.
Das macht dich vielleicht auch weicher, aber vor allem wirksamer.Und vielleicht wirst du erleben, dass die „schwierigen“ Schüler*innen plötzlich anfangen zu erzählen.
Von sich. Von dem, was sie wirklich wollen. Von dem, was sie brauchen.
Und das ist vielleicht der wichtigste Lernstoff von allen.
- Über die Autorin
WER BIN ICH?
Wiebke Heiber
Gründerin TeacherscareIch bin Wiebke Heiber, habe immer wieder als Lehrerin gearbeitet und wollte Schule schon immer verändern. Lange hatte ich das Gefühl, es müsse sich einfach alles ändern. Das fühlte sich so überfordernd an, dass ich lieber gar nichts gemacht habe.
Und ja, Bildung muss endlich höchste Priotität und damit Ressourcen und Wertschätzung auf politischer Ebene erhalten. Und gleichzeitig empfinde ich es als frustrierend nur auf dieser Ebene anzusetzen und auf Änderungen zu warten, während der Schulbetrieb weiter läuft.
Deswegen möchte ich Lehrer*innen dahingehend stärken, dass sie für sich und ihre Werte einstehen. Und vorhandene Gestaltungsräume wahrnehmen, nutzen und vergrößern.